Ki nagare -
fließendes Training

Aikido. Gisela Döhler, Malmö.
Der scharfsinnige Leser hat bereits erkannt, dass der 
Unterschied zwischen dem harten, weichen und fließenden Training des 
Aikido nicht so viel mit der Ausführung der Techniken zu tun 
hat als mit deren Einleitung. Ganz richtig. Gotai beginnt, wenn 
der Griff des Partners ordentlich geschlossen ist und jutai, wenn 
der Angriff eingeleitet wird. Ki nagare hat keinen Startpunkt.
      
	Aikido will in keiner Weise in einer 
Selbstverteidigungssituation steckenbleiben, in einem Kampf zwischen zwei 
Willen. Ungeachtet wie groß die eigene Überlegenheit ist, so besteht 
das Risiko, dass man die Herausforderung annimmt und es am 
Ende des Kampfes einen bitteren Verlierer gibt, egal wer das ist. 
Nein, in Aikido will man einen Zustand erreichen, der nicht von 
Aggression gestört, nicht von Herausforderungen erschüttert 
werden kann, der nicht vor Feindlichkeiten in Schutz gehen muss. 
Man trottet nur dahin, als wäre nichts geschehen.
      
	Das ist ki nagare (oder ki no nagare, wie es auch 
geschrieben wird), ein ununterbrochener Fluss von Ki. Der angreifende 
Partner wird in diesen Fluss hineingezogen und weggeleitet, ohne 
dass der Verteidiger dafür seinen Kurs geändert oder Halt 
gemacht haben muss. Die Aikidotechniken werden auf dem 
Spaziergang ausgeführt, ohne erkennbare Einleitung oder Abschluss. Es 
ist nur der Angreifer, welcher eine Art Startpunkt ausmachen 
kann — seinen eigenen Angriff.
      
	Wenn es viele Angreifer gibt, wird es sowohl natürlich 
also auch notwendig, ki nagare auszuführen, das nicht bei 
jemandem stehenbleibt und keine vorhersehbare Strategie enthält. 
Gut durchgeführt sieht es unleugbar unterhaltend aus: Der 
Aikidoka wandert planlos in einem Haufen von Angreifern herum, 
die sämtlich ihr Ziel verfehlen und in alle Richtungen fallen, 
wie Bowlingkegel bei einem Strike. Aber die Prinzipien des 
Aikido sind deutlich und in dieser Lage nicht so schwer anzuwenden 
- schwerer ist es faktisch, einer der Angreifer zu sein, der 
Risiko läuft, von einem der seinen getroffen zu werden und der 
zudem große Probleme hat, die Augen auf dem erwählten Opfer zu 
halten.

Aikido. Gisela Döhler, Malmö.
      
	In ki nagare wird dieser natürliche Ki-Fluss und die 
Positionsveränderung des Körpers in ständigem taisabaki 
trainiert. Dadurch dass man nie fest auf einem Punkt bleibt, können 
die Angreifer sich nicht zu einem ordentlichen Angriff sammeln, 
dadurch dass man sich in ständigem irimi und tenkan bewegt, 
kann kein einzelner Angreifer mit seinem Angriff Erfolg haben. 
Man bemerkt auch das Ausgeklügelte der Aikidotechniken — sie 
sind alle so ausgedacht, dass man sich sogar während ihrer 
Ausführung in unaufhörlichem taisabaki bewegt, so dass die umgebenden 
Angreifer keinen Treffer machen können, während man mit 
ihrem Kumpel zu tun hat. Das war eine selbstverständliche 
Eigenschaft der Verteidigungskunst der Samurais, denn diese bereiteten 
sich für das Schlachtfeld vor, nicht nur für Duelle Mann gegen Mann.
      
	Die gewöhnlichsten Techniken in ki nagare sind Würfe, 
da diese schnell sind und nicht erfordern, dass man in 
irgendeiner Position verbleibt. Aber auch die Festhaltetechniken 
funktionieren, wenngleich etwas modifiziert, gegen mehrere Angreifer. 
Teils kann man sie zu Würfen oder ein schnelles 
Zu-Boden-Bringen umwandeln, teils kann man mit ihnen den Partner steuern, 
so dass er im Weg seiner Kumpanen landet, und teils können 
selbst diese mit einer ununterbrochenen Abfolge von taisabaki 
durchgeführt werden. Sämtliche Techniken bekommen jedoch 
mehr und mehr die Prägung von Fluss, Spiralen und Ellipsen, 
welche Wirbelwinden gleich die Angreifer zum Fallen bringen, auch 
oft die, an die man nicht direkt Hand gelegt hat.
      
	Selbstverständlich geht es, ki nagare auch zu zweit zu 
trainieren, indem der Angreifer sich nach jedem Fall beeilt 
aufzustehen und erneut angreift. Der Verteidiger sollte sich die 
ganze Zeit in Bewegung befinden, besser auf den Partner zu als von 
ihm weg, so dass das Tempo gesteigert wird. Das kann eine 
ziemlich konditionsfordernde Trainingsform sein. Eine gelungene 
Methode, das Tempo hochzubringen ist kakari geiko, da 
mehrere Angreifer in einer Reihe stehen und einer nach dem anderen 
nach vorne eilt, so bald der Verteidiger den vorhergehenden zu 
Fall gebracht hat — oder noch besser kurz bevor er noch dahin 
gekommen ist. Durch ein solches Training lernt man auch, sich 
unmittelbar an das unterschiedliche Temperament, die 
unterschiedliche Größe und Stärke usw. der verschiedenen Angreifer anzupassen.
      
	In einem hohen Tempo von ki nagare ist es unmöglich, 
seine Techniken mit Hilfe des Gehirns zu machen — das ist ein 
weitaus zu langsamer Befehlsgeber. Die Initiative muss in die Reflexe, 
in die Intuition und ins Gefühl verlegt werden. Man setzt 
seinen Fluss in Gang und lässt die Aikidotechniken dann diesen 
natürlich ausdrücken, diesem folgen, wie es kommt. Man kann das 
mit der Improvisation eines Musikers vergleichen, bei der das 
Gehirn weit hinter der Bewegung der Finger auf dem Instrument 
zurückbleibt.
      
	Ki nagare ist natürlich die Trainingsmethode, die dem 
Wesen des Aikido am nächsten liegt. Der Aikidoka soll sich ständig 
in diesem Fluss befinden, der automatisch zu Techniken führt, 
wenn jemand ihn angreift — und das unmittelbar, natürlich, so als 
wäre der ganze Verlauf vorbereitet und einstudiert. In Wirklichkeit 
ist es unmöglich, ein solches Aikido durch Vorbereitung und 
Einstudieren zustande zu bringen. Es muss unvorbereitet aus 
einem wachen und lebenden Zentrum geboren werden. Wenn es 
funktioniert wie es soll, benötigt man immer weniger physischen 
Kontakt um die Aikidotechnik durchzuführen, man wird eher 
zu einem Strom, in dem der Angreifer mitgerissen wird. 
Weder Grifftechniken noch Wurf erfordern physische Anstrengung 
oder dass man sich an seinem Partner festsaugt. Es fließt nur. 
Obwohl das wie eine unzuverlässige Selbstverteidigung wirkt, bevor 
man versteht, wie es vor sich geht, ist es der Weg zu einem richtig 
hinreißenden Aikido. Man sollte mit der Zeit seinen Partner mit 
der gleichen Leichtigkeit hantieren können, wie der Dirigent 
sein Orchester — vielleicht am Ende aus derselben Entfernung.

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© Stefan Stenudd 2006. Arriba Verlag.
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I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.