Kamae
- die perfekte Stellung

Shoji Nishio. Foto: Magnus Hartman.
Es war einmal ein alter Meister in chado, Teezeremonie, 
der schönen Kunst, Tee zuzubereiten und zu servieren. Er war 
sehr erfahren in seiner Kunst und ein Stolz für seinen Herrscher, 
einen von Japans Provinzherren. Daher wollte der Provinzherr ihn 
gern mit sich haben, als es Zeit war, zum shogun, dem Herrscher 
des Landes zu reisen, um diesem seine Loyalität zu bekunden.
      
	Es war notwendig, sich für diese Reise in die Tracht 
des Samurais zu kleiden, aber der Teemeister wusste nichts von 
der Schwertkunst und der Sitte der Samurais, und so bat er 
seinen Herren darum, ihm das zu erlassen. Der Provinzherr gab 
nicht nach, und so musste der alte Meister die zwei Schwerter in 
seinen Gürtel stecken, etwas was dem Stand der Samurais 
vorbehalten war, und mit nach Edo (dem jetzigen Tokyo) kommen.
      
	Der Shogun war von der schönen Teezeremonie des 
Meisters hingerissen und der Provinzherr schmunzelte, doch als der 
Meister an einem Tag in den Straßen von Edo spazierenging, traf 
er einen ronin, einen frei wandernden Samurai, der ihn sofort 
zum Duell aufforderte. Es war Sitte unter Samurais, ihre 
Geschicklichkeit aneinander zu prüfen, und der 
Teezeremoniemeister konnte um der Ehre seines Herren willen weder ablehnen 
noch zugeben, dass er kein Samurai war. Aber er bat seinen 
Herausforderer um einen Aufschub von einigen Stunden, um 
seinem Herrn mitteilen zu können, was bevorstand, und um 
seine Geschäfte abschließen zu können. Das wurde bewilligt.
      
	Der Meister beeilte sich, den besten Meister der 
Schwertkunst aufzusuchen, den es in der Stadt gab und erklärte ihm, 
was ihm bevorstand.
      
	"Ich weiß, dass ich ein solches Duell nicht gewinnen 
kann", sagte er, "aber um meines Herrschers willen ist es notwendig, 
dass ich wie ein Samurai sterbe. Wollt ihr mich deshalb lehren, wie 
ich mich recht verhalten soll, damit mein Herausforderer die 
Wahrheit nicht ahnt?"
      
	Der Fechtmeister war zutiefst gerührt von der 
demütigen Bitte des Alten, fern vom Hochmut, den seine eigenen 
Schüler aufwiesen.
      
	"Ich kann dir helfen", sagte der Schwertmann, "wenn 
du zuerst deine Teezeremonie für mich ausführst."
      
	So geschah es, und der Schwertmann war von der Kunst 
des Alten hell entzückt.
      
	"Nur eine Sache musst du wissen", erklärte der 
Schwertmeister dann. "Wenn du vor dem Herausforderer stehst, zieh 
dein Schwert und denk dann genau auf dieselbe Weise, wie wenn 
du mitten in deiner Teezeremonie bist."
      
	Diese Anweisung verdutzte den Teezeremoniemeister, aber 
er ging zu dem besprochenen Duellplatz und tat, wie ihm 
gesagt worden war, zog sein Schwert und konzentrierte sich genau 
auf dieselbe Weise wie bei seiner Teezeremonie. Der 
Herausforderer zog auch sein Schwert und näherte sich seinem Gegner 
vorsichtig. Aber wie er auch probierte und versuchte, fand er in der 
Stellung des Teezeremoniemeisters keine einzige Blöße, keinen 
einzigen schwachen Punkt, gegen den er seinen Anfall richten 
konnte. Den Angriff gegen eine Stellung ohne die geringste Öffnung 
zu richten, das ist der sichere Tod. Als er seinen Gegner lang 
und gründlich auf diese Weise geprüft hatte, musste er deshalb 
aufgeben und senkte sein Schwert.
      
	"Ich bitte um Verzeihung", sagte der Herausforderer 
mit demütiger Stimme. "Ich verstehe, dass ich Euch unmöglich 
besiegen kann." Und er verließ den Platz.

Tomas Ohlsson und Stefan Stenudd, aikibatto, Malmö.
      
	In den Budokünsten wird die Grundposition, die 
Ausgangsstellung, Kamae genannt. Sie unterscheidet sich in Kendo, 
Judo, Karatedo, Aikido und den anderen Künsten, aber die 
Prinzipien sind die selben. Man soll bereit, entspannt sein und einen 
leeren Kopf haben. Das Schriftzeichen für den Begriff ist ein 
wenig merkwürdig, da es aus dem Zeichen für Holz oder Baum und 
für Spalier oder ähnliche zusammengefügte Konstruktionen 
besteht. Das gibt ein Bild von der Grundstellung als komplexe 
Konstruktion, wo jedes Teil seinen speziellen Platz und seine Funktion 
hat, und wo die Festigkeit des Ganzen darauf beruht, dass alle 
Teile ihre richtige Lage gefunden haben.
      
	Viele glauben, dass die beste Verteidigung 
angespannte Bereitschaft ist, dass man in seinem Kopf Unmengen von 
Techniken und Tricks haben soll, um sie anwenden zu können, 
wenn der Angriff kommt. Aber mit einer solchen Einstellung ist 
man leicht zu überlisten und in die Irre zu führen. Das Gehirn ist 
langsamer als die Hand und kann leicht besiegt werden. Das 
beste Kamae besteht darin, sich selbst von Plänen, Unruhe und 
Siegergelüsten zu leeren, so dass die Reflexe sich der 
Verteidigung annehmen. Mit einer solchen Einstellung kann man nicht 
überrascht werden.
      
	Als der Teezeremoniemeister an seine Kunst dachte, wurde 
er auf diese Weise leer und rein im Inneren, wie in tiefer 
Ruhe. Daher konnte man keine Blöße sehen. Der Herausforderer 
wurde nicht in die Irre geführt, da es dem alten Meister vermutlich 
in diesem Zustand geglückt wäre, genau das Richtige zu tun, 
wenn er angegriffen worden wäre, obwohl er nie zuvor ein Schwert 
benutzt hatte.

Stefan Stenudd und Håkan Karlsson, Ven.
      
	Kamae ist wirklich eine Meisterprüfung. Schon da — 
bevor eine Bewegung eingeleitet wurde — unterscheidet sich der 
Anfänger markant von dem Erfahrenen. Es gibt unzählige 
Geschichten in Japan darüber, wie Duelle zwischen Samurais schon 
in Kamae entschieden wurden, ohne dass ein einziger Hieb 
gefallen war. Derjenige welcher ein überlegenes Kamae hat, verliert 
den Kampf nicht.
      
	Der große Schwertmeister unserer Zeit ist der alte 
Kiyoshi Nakakura, graduiert zum neunten dan sowohl in Kendo als 
auch in Iaido (den zehnten Dan kann man in diesen Budoarten 
nur posthum zuerteilt bekommen). Er hat in seinen jüngeren 
Tagen auch Aikido trainiert. Nakakura erzählte mir einmal, wie er 
seine Danprüfungen durchführt. Er studiert nur das Kamae des 
Trainierenden, dann weiß er, welchen Dangrad dieser haben soll 
und sieht überhaupt nicht darauf, was sie unter der ganzen 
restlichen Prüfung machen. Hier und da passiert es trotzdem, dass er 
zögert — soll dieser Schüler den dritten oder vierten Dan haben? In 
einem solchen Fall hält er die Augen auf die allererste Bewegung. 
Gleich ob das ein Anfall oder ein Parieren ist, Nakakura weiß sofort, 
welcher Grad es wird — und schließt die Augen. Mehr muss er 
niemals sehen.
      
	Kamae ist wie gesagt in den Budoarten jeweils ein 
wenig unterschiedlich. Das hat mit deren Techniken und Zielen zu 
tun. Im Judo steht man mit den Füßen genau unter den Schultern, 
so dass sie einige Dezimeter Abstand haben, aber kein Fuß ist 
vor dem anderen. Das ist die beste Ausgangsstellung für die 
vielen Würfe und Fußschwünge des Judo, wenn man schnell 
zwischen Verteidigung und Angriff wechseln will. In der 
grundlegenden Stellung von Karatedo macht man einen großen Schritt 
vorwärts, so dass der Körper gesenkt wird, das hintere Bein wird 
gestreckt und das vordere gebeugt. Die Füße stehen etwas mehr als 
schulterbreit. Die Position soll maximale Standfestigkeit und Kraft 
für die dynamischen Karate-Techniken geben. In Kendo macht 
man etwa einen halben Schritt vorwärts und hebt die hintere 
Ferse. Die Füße befinden sich fast auf der selben Linie, ein gutes 
Stück näher zusammen als schulterbreit. Das macht man, um 
eine schmale Zielscheibe zu werden und sich in einem Ausfall 
mit maximaler Schnelligkeit nach vorn werfen zu können, ohne 
einen Satz machen zu müssen.
      
	Im Aikido ist die gewöhnlichste Grundposition 
hanmi gamae, etwas länger als der halbe Schritt im Kendo und mit 
dem hinteren Fuß zur Seite zeigend, dem vorderen Fuß gerade 
nach vorne, und der Körper ist ein wenig zur Seite gewandt — so 
als wäre man auf dem Weg in zwei Richtungen gleichzeitig. Das 
ist auch eine der Ursachen. Man will Halt für freie Bewegungen 
zur Seite sowie nach vorne haben. Die erste Bewegung ist ja so 
gut wie immer ein Schritt schräg nach vorne. Der Winkel des 
hinteren Fußes nach außen bewirkt auch, dass man bedeutlich 
mehr Kraft für einen schnellen Schritt nach vorne hat.
      
	Aber das vornehmste Kamae, das man im Aikido haben 
kann ist die Stellung, die keine besondere Stellung ist. Wir wollen 
diese Anti-Kamae nennen. Im Aikido akzeptiert man niemals 
den Kampf — man ist niemals darauf aus. Deshalb sollte man 
auch keine Stellung haben, die Bereitschaft für Kampf ausdrückt. 
Ein richtig harmonisches Aikido geht vom gewöhnlichen 
Spazierschritt aus, so dass man nicht einmal in der Ausführung der 
Techniken den Spaziergang unterbricht. Kamae ist nichts anderes 
als die Position, in der man sich zufällig befindet, wenn man 
mitten in einem Schritt stehenbleibt: der eine Fuß einige Zentimeter 
vor dem anderen, der Körper nach vorne gerichtet und die 
Hände entspannt an den Seiten herabhängend, wie es sich ergibt. 
Man spricht von shizentai, der natürlichen Körperstellung, und 
Morihei Ueshiba betonte: "In Aikido gibt es keine besondere 
Verteidigungsstellung, sondern wir stehen und bewegen uns 
völlig natürlich."

Mouliko Halén und Rose-Marie Millberg. Foto: Magnus Hartman.
      
	Das Kamae von Aikido unterscheidet sich damit völlig 
von dem der anderen Budoarten. Es wird unsichtbar, nicht 
existierend. Deshalb hat es keine Schwächen. Es soll den Partner 
nicht warnen, indem es Bereitschaft und Können zeigt, es soll 
auch nicht die Wahlmöglichkeiten des Aikidoka begrenzen 
dadurch dass es nur zu einer bestimmten Verteidigung passt. Es soll 
nichts anderes sein als das, was es zufällig wird.
      
	Wenn man in seiner Grundposition keine 
Wachsamkeit zeigt, schafft man keinen Argwohn, wenn man seine 
Integrität und seinen Willen zur Verteidigung nicht markiert, wird der 
Partner nicht zur Herausforderung animiert. Man wird wie 
Luft. Aggression braucht eine Zielscheibe, gegen die sie sich 
richtet. Das ist sowohl bei Menschen als auch bei Tieren dasselbe. 
Der Instinkt anzugreifen wird augenblicklich sowohl 
dadurch geweckt, dass man jemanden fliehen sieht, als auch dadurch, 
dass man jemanden sich zur Gegenwehr rüsten sieht. Nur der 
welcher keine Bedrohung zu bemerken scheint, kann den Angreifer 
dazu bringen, seine Absicht zu vergessen, oder sogar dazu, dass 
ihm niemals etwas derartiges in den Sinn kommt.
      
	In der Ausführung von Aikidotechniken wendet man 
Kamae auch auf eine ziemlich paradoxe Weise an — um einen Angriff 
auszulösen. Dadurch, dass man eine Blöße in seinem Kamae 
zeigt, kann man den Partner dazu bringen, genau diese anzugreifen, 
in dem Augenblick, in dem man die Blöße zeigt. Man öffnet 
sein Kamae und lockt damit den Partner zum Angriff. Mit 
beharrlichem Training kann man auf diese Weise lernen, den 
Angreifer so unmerklich wie umfassend — und ausschlaggebend — zu 
manövrieren und manipulieren. Nicht einmal der wütendste 
Schwertkämpfer will direkt in die gedeckte Stellung des Gegners 
springen, aber nimmt er eine Blöße in der Stellung wahr, einen Mangel 
an Konzentration — da attackiert er unmittelbar. Wenn der 
Verteidiger es wählt, eine solche Blöße zu zeigen, kann er damit 
den anderen dazu bringen, seinen Anfall zu machen — und 
dieser richtet sich gerade gegen die gezeigte Blöße. Deshalb soll man 
im Aikidotraining immer zusehen, seinen Partner zu genau 
dem Angriff zu verleiten, für den man die Verteidigung übt — 
teils damit der Angriff glaubwürdig und durchführbar wirkt, und 
teils, weil man sich so in der Kunst übt, den Angreifer versteckt 
zu manövrieren.
      
	Wenn man statt dessen immer ein uneinnehmbares 
Kamae behält, oder das Anti-Kamae, das den Angreifer seinen 
Willen zum Angriff vergessen lässt — da gibt es ja nicht viel zu trainieren.

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Stefan Stenudd
About me
I'm a Swedish author of fiction and non-fiction books in both English and Swedish. I'm also an artist, a historian of ideas, and a 7 dan Aikikai Shihan aikido instructor. Click the header to read my full bio.